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Пресса
16 Октября 2013

Stille Evolution

14. Oktober 2013

Das Majakowskij-Theater zieht in der neuen Saison mächtig an

 

Eine Zeitreise durch die Geschichte des Theaters, ein zirkusartiger Ausflug aufs Land und Ibsen komplett neuinterpretiert. Das Majakowskij-Theater fährt allerhand spektakulärer Vorführungen auf, um die kalte Saison zu versüßen.

 

Von Ruth Wyneken / redaktion@martens.ru

 

Seit gut zwei Jahren weht mit dem neuen künstlerischen Leiter Mindaugas Karbauskis frischer Wind im Majakowskij-Theater, das seinen Status als Avantgarde- theater seit Jahrzehnten eingebüßt hatte. Die Theaterarbeiten des 41-jährigen Litauers („Die Buddenbrocks“, Stücke von Thomas Bernhard, Hürlimann, Brechts „Herr Puntila“) wurden in Moskau so geschätzt, dass man ihm die Leitung der „Majakowka“ antrug. Auffallend ist nun die behutsame, aber beharrliche Umwandlung des Theaters, der Spagat zwischen Klassik und Experiment und dem Wiederbeleben der russischen Avantgarde. Schließlich zählte der Namensgeber Wladimir Majakowskij einst zu den führenden Futuristen und Revolutionsdichtern. Aber Karbauskis ist für Evolution, nicht Revolution.


Seit dem Winter läuft hier zum 90. Theaterjubiläum sonntags mittags „Neunmalzehn“ in der Regie des 26-jährigen Nikita Kobeljew. Die als Dokumentardrama getarnte Performance ist eine köstliche Zeitreise in die Geschichte des Theaters, sie beginnt im Foyer und führt in den Keller. Da sind wir Zeuge einer Pressekonferenz, die der Meister des Revolutionstheaters Wsewolod Meyerhold und Kulturkommissar Lunatscharskij halten, wir hören Tratsch und Wahres, verstorbene Künstler und Mitarbeiter des Theaters erzählen aus den Kulissen der jungen Sowjetunion. Das kommt leicht und unterhaltsam daher, wie bei der Szene, in der sich nach Stalins Tod die Regisseure Peter Brook und Nikolaj Ochlopkow, damaliger Leiter des Majakowka, in Moskau begegnen, beide mit ihren Stars: ein russischer Hamlet und eine englische Ophelia. Ochlopkow heizt seinem Schauspieler so gehörig ein, dass der sich wie der besagte russische Bär auf die zarte Engländerin stürzt und sie tödlich erschreckt – Kulturclash mitten im Kalten Krieg. 


Im Spielplan der großen Bühne steht auch Iwan Turgenews Komödie „Ein Monat auf dem Lande“, das zu Lebzeiten des Autors als sehr sozialkritisch aufgefasst und verboten worden war. Aber der 50-jährige Alexander Ogarjov hat das Stück zeitlos fiktiv inszeniert, die Akzente verschoben und einen Schuss Zirkusästhetik beigemischt, die es bis zur Farce treibt. Überdimensionale Mohnblumen im Hintergrund wecken die Illusion eines Gutes. Ein riesiger Koffer dient aufgeklappt als Gartenidylle, in der Alexandre Dumas gelesen wird, zugeklappt als Boot oder als Tribüne für fetzige Musik-Einlagen von Madame und der Dienerschaft. Die gefeierte Jewgenija Simonowa spielt Madame Islajewa als alternde Diva, der Student Beljajew, der als Erzieher des Sohnes eingestellt wurde, ungewollt aber alles durcheinanderwirbelt, wird bei Jurij Kolokolnikow zum postpubertären Lulatsch, der nicht weiß, was er mit seinen langen Gliedmaßen anstellen soll. Doch Spaß und Idylle trügen: Die ans Lächerliche grenzende Liebe der Hausherrin zum Studenten kippt um in eine zerstörerische. Madame duldet keine Konkurrenz, schon gar nicht von ihrer hübschen Ziehtochter Verotschka (Polina Lasarewa). Und so werden im II. Akt nicht nur die Streifen im Orchestergraben zerschnitten, die zuvor für kecke Plantschszenen herhielten, sondern es platzen auch alle Illusionen. Die arme Verotschka wird den alten Nachbarn heiraten, einen als Karikatur erscheinenden Gutsbesitzer. Madames technikbesessener Ehemann (Viktor Saporoschkij) muckt endlich mal auf und der Hausfreund schleicht sich von dannen. Und Madame? Sie entschwebt im Finale mit ihrem Jüngling gen Zirkuskuppel, zurück in ihren Traum. Wer intelligente Unterhaltung mag, kann diesen „Monat auf dem Lande“ in vollen Zügen genießen.
  


Die neue Saison ist vielversprechend: Neben neun Premieren läuft nun die Rekonstruktion der Theaterfiliale an der Sretenka an. Sie soll als größere experimentelle Bühne Schauspielern und Regisseuren ungeahnte Möglichkeiten bieten. Kurz vor der Sommerpause gab es schon den Vorgeschmack auf eine neue Premiere: Der junge Hausregisseur Nikita Kobelew brachte „Der Volksfeind“ nach Ibsen heraus, mit aktuellen Erfahrungen der Umweltaktivisten in Moskau und der jungen Opposition von heute. Eine scharfe, mutige und sehr politische Arbeit. Es wird spannend an der Großen Nikitskaja!


Ruth Wyneken / Moskauer Deutsche Zeitung / 14.10.2013

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